EMOP - Europäischer Monat der Fotografie Berlin 2016

Hütte, Zaun und Horizont

Fotografie

© Gabriele Kostas, aus der Serie „Gartenkooperative Veneto“, 2012-2016

Ausstellung
9. September bis 30. Oktober 2016

Eröffnung
Donnerstag, 8. September 2016 | 19 Uhr

Der Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung Mitteleuropas, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, brachte immer wieder auch Gegenbewegungen hervor, die sich für ein Leben im Einklang mit der Natur einsetzten, wie es sich im eigenen Garten verwirklichen lässt. Die Kleingartenkolonien, die im Zuge sozialpolitischer Kämpfe an den Rändern der großen Städte entstanden, legen bis heute Zeugnis davon ab. Heute sprechen wir von "Urban Gardening" und meinen damit auch subversive Strategien, mittels derer Städtebewohner ihre auf Funktionalität ausgerichtete steinerne Lebenswelt durch Grün zu bereichern bestrebt sind: das können winzige Gärten auf den Baumscheiben der Straßenbäume sein, aber auch luxuriöse Dachgärten und Penthouse-Terrassen. Längst sind die Laubenkolonien keine Domänen rasenmähender Rentner mehr, vielmehr streben sowohl junge Familien wie auch intellektuelle Einzelgänger in diese grünen Oasen.

Die Sehnsucht nach einem Leben in und mit der Natur ist ein globales Phänomen, dessen Erscheinungsformen schließlich auch die zeitgenössischen Künstler, und unter ihnen besonders die Fotografen, nicht unbeeindruckt ließen.

Mit unserer Ausstellung stellen wir in sieben künstlerischen Positionen vor, welche Aspekte der "Zurück zur Natur"-Bewegung hier fotografisch fruchtbar wurden.

AutorenfotografInnen, also solche, die sich unabhängig von zahlenden und mitredenden Auftraggebern ihre Themen selbst suchen, um diese dann, oft als Langzeit-Projekte, zu studieren und in einer daran entwickelten Bildsprache vorzustellen, denken und arbeiten kaum in Einzelbildern, sondern in Serien, Typologien und Tableaux, und am Ende der Arbeit steht eine Ausstellung und eine Publikation.

Einen global wirkenden, nachhaltigen Impuls erhielt diese Arbeitsweise durch das Lebenswerk und die langjährige Lehrtätigkeit von Bernd und Hilla Becher, die mit ihren Typologien eine neue Ästhetik der fotografischen Dokumentation schufen und wesentlich zur Neubewertung der Fotografie als ein der klassischen Bildenden Kunst gleichrangiges Medium beitrugen.

Zwei der hier gezeigten Künstler, Simone Nieweg und Götz Diergarten, studierten bei Bernd Becher in Düsseldorf. Die früheste typologische Arbeit in unserer Ausstellung stammt allerdings nicht von ihnen, sondern von dem an der Folkwangschule und in den USA ausgebildeten Joachim Brohm, dessen erst 2014 als Buch ("Typology 1979") erschienene Arbeit über eine Kleingartensiedlung bei Essen bereits 1979 entstanden ist, und zwar in Farbfotografie, die zu der Zeit unter künstlerisch ambitionierten Fotografen hierzulande noch als Medium der Amateurfotografie umstritten war. Götz Diergartens Arbeit "Nowa Huta", anlässlich eines vom Goethe-Institut ermöglichten Arbeitsaufenthaltes 2010 in Krakau in der benachbarten Industriestadt entstanden, zeigt in typologischen Serien den freien Umgang mit Form und Farbe in der Gestaltung der Siedlungshäuschen, deren Bauformen mal zur Baracke, mal zur Villa tendieren - eine gestalterische Freiheit, die bei uns als abweichend von den Kleingartennormen ganz undenkbar wäre.

Einen anderen Weg wählte Simone Nieweg, als sie sich für die Analyse der Formen, Farben und Strukturen von Landschaft und Garten entschied. In ihrem Buch "Natur der Menschen", 2012, sehen wir, dass "Natur" als Landschaft, Feld und Garten zwar aus überwiegend strengen Einzelgestalten den Pflanzen besteht, diese aber, wenn sie zum Garten werden, Bilder entstehen lassen, die in ihren unablässigen Wandlungen zwischen Wachsen und Vergehen zu keiner typologisch fassbaren Form gelangen. Wer sich fotografisch auf Gärten einlässt, muss das Zusammenspiel zwischen den heterogensten Formelementen einerseits der Pflanzen und andererseits der Werkzeuge und Gartenaccessoires erkennen, um daraus ein bildwirksames Ganzes zu kreieren. Was Simone Nieweg in ihrer Farbfotografie bewirkt, ist nicht nur die Befreiung der Landschafts- und Gartenfotografie von der üblichen Romantisierung und Ästhetisierung, sondern die Verdeutlichung der grammatikalischen Strukturen wie des bildhaften Vokabulars von Garten und Landschaft.

Das gilt auch für die sechs Farbfotografien von Gabriele Kostas: ihre fotografischen Studien in italienischen Gärten und Landschaften ließen sie den Weg zu einer Garten-Kooperative finden, deren fast theatralisch-verspielt anmutender Umgang mit den Arbeitsgeräten und Hilfsmitteln des Gärtners zu einer anmutigen und sehr italienischen Bildserie führte.

In den in ihrer Grauscala meisterhaften Schwarz-Weiß-Fotografien der "Gartenstücke" um Wiepersdorf von Ingar Krauss vermag man fast parodistische Elemente erkennen, wenn man sie auf das Vokabular von Gärten hin anschaut. Es sind Blicke auf etwas, das man gern als "Bauerngärten" bezeichnet und wovon kaum jemand eine Anschauung hat, da es den klassischen Bauernhof und - Garten kaum mehr gibt: hier als Garten-Rückansichten rund um ein Dorf, in denen Buden, Zelte, Zäune, Hecken und Tore wie aus anderen Zeiten und Welten abgestellt und vergessen herumstehen: bleibt man beim Begriff des Garten-Vokabulars, so bewegt sich das schon in Richtung Garten-Dadaismus. Gabriele Kostas und Ingar Krauss sind als Fotografen Autodidakten: Kostas' Weg führte von der Philosophie über die Musik zur Fotografie, Krauss kam über berufliche Umwege, wie sie für unangepasste DDR-Bürger nicht untypisch waren, zur Fotografie.

"Es hat einige Zeit gedauert, bis ich begriff, dass die Beete nicht einfach grün sind", schreibt Andreas Weinand in einem autobiografischen Nachsatz zu seinem Buch "The Good Earth", 2013, in dem er das Ergebnis einer Langzeitstudie auf einem Acker bei Mülheim im Ruhrgebiet vorlegt. Weinand hat an der Folkwangschule in Essen Fotografie studiert und arbeitet seitdem fotografisch am Begreifen und Darstellen von Lebensprozessen. Die Komplexität seiner Bilder erwachsen aus dem Sich-Einlassen und Sich-Zeit-Lassen. Das Arbeiten der drei Alten auf dem Stadtrandgelände zeigt alles andere als einen romantischen Lebensausklang im Garten: harte Arbeit, manches vergebliche Mühen wie auch das Glück des Erntens erzeugen ein realistisches Bild vom aktiven Leben in und mit der Natur.

Einen Sonderfall der Annäherung an Natur zeigen die großen Schwarz-Weiß-Fotografien von Carola Vogt und Peter Boerboom beide leben und arbeiten gemeinsam in Münsing - an Beispielen europäischer Kletterpfade und Baumwipfelwege, die sie in ihrem Projekt "Abenteuerland" (2013 als Fotohof edition Bd. 190) gesammelt haben. Wir kennen Ähnliches aus Naturreservaten, in denen man Moore und Wasserläufe auf Stegen und Brücken überquert. Hier kommt, dem Lebensgefühl vor allem der jüngeren Menschen entsprechend, ein Moment des Abenteuerlichen, Gefährlichen und des Kräftemessens hinzu, wenn auf Hochseilwegen Flüsse und Abgründe überwunden werden müssen auch das ein Zeichen der Sehnsucht nach Nähe zur Natur, wenn man mal als Vogel, mal als Amphibie sonst kaum zugängliche Welten durchwandert.

Janos Frecot
Kurator der Ausstellung

© Vogt-Boerboom, Waldmünchen I, 2009
© Andreas Weinand, Margret und Walter pflanzen Porree, 2006
Copyright: Joachim Brohm/VG Bild-Kunst 2016, 'Typologie 1979', 50 x 50 cm, Archivfester Pigmentdruck

© Gabriele Kostas, aus der Serie „Gartenkooperative Veneto“, 2012-2016
© Simone Nieweg, Kohlpflanzen 2005
© Götz Diergarten, o.T. (Nowa Huta III) 2, 2010, C-Print auf Alu-Dibond
© Ingar Krauss, Garten 05


Hütten, Zaun und Horizont, Vernissage, 8. September 2016

©  Piotr Bialoglowicz